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Vorwort:


Der spurlose Pfad,
sowas gibt es garnicht.

(im Herbst 2010 ins Meer geworfen...)

Das Netz vergisst nichts, so heisst es immer. Das vielfache und vielfältige Rauschen, Plappern, Zwitschern, Brummen und Brüllen, Flüstern und Murmeln, Quitschen und Rattern, nie endende und pausenlos an den Strand rollende Wogen des belanglosen Banalen und Bösen, des Wichtigen, Interessanten und Guten und Schönen, es vergeht nie. Bis in alle Ewigkeit bleibt es im unendlich grossen Wissensspeicher des Netzes gegenwärtig, unvergänglich und immer abrufbereit. Das Netz kennt kein gnädiges Vergessen wie das natürliche Gedächtnis des Menschenhirns, keine Spur verweht und vergeht, keine Erinnerung verblasst und verwandelt sich, nichts verschwindet und verlöscht, selbst wenn es der Urheber wünscht und tabula rasa machen möchte, auf den Papierkorb Nirvana hämmert und seinenComputer zertrümmert.
Ist das wirklich so?
Hier eine kleine hoffnungsvolle Geschichte, die erzählt, wie das Grauen des ewigen Gedächtnisses gelockert und aufgelöst wird. Das Netz vergisst doch! Nicht durch Überlastung, Zusammenbruch oder Schädlinge sondern aus sich heraus, sozusagen von selbst, von ganz alleine, ohne Zutun.
Folgenden Brief hatte ich letztes Jahr an einige Freunde versandt:


Das verborgene Buch

Im ersten Sommer seit vielen Jahren, den wir zu Hause verlebten, radelte ich fast täglich zum Boot und segelte mit den häufigen N - und E - Winden den Rhein hoch zu meiner kleinen Privatbucht, wo ich ankerte und an dem Manuskript arbeitete, das ich im Winter davor begonnen hatte, als mich die schmerzenden Gelenke ans Haus und den Schreibtisch fesselten.

Dass wir nicht wie jedes Jahr auch 2009 eine grössere Segelreise unternahmen, lag daran, dass Do keine Lust mehr dazu hatte und endlich einmal unseren Garten in Blüte erleben wollte und bei mir war es das bewegende Zusammentreffen mit Charles Stock bei unserer Abschiedsreise nach England im Vorjahr, was mich bewog, zu Hause zu bleiben. Über 80.000 sm hat Mr. Stock mit seinem kleinen Boot nur und ausschliesslich in der Themsemündung, die er nie verlassen hat, gesegelt.

Das kann ich auch, - nun im Alter auf dem Rhein - sagte ich mir.

Heute versteht ja kaum noch jemand, warum die alte Kultur am Rheinufer entstanden ist; deswegen nämlich, weil - vor allem im Frühling - der Wind oft wochenlang Rhein-auf weht (ähnlich wie bei den alten Flusskulturen am Nil und am Jangtze und im Zweistromland). Der strömende Rhein ist tatsächlich ein Segelrevier, allerdings ähnlich anspruchsvoll wie Gezeitengewässer. Als das oben angesprochene Buch aus meiner Privatbucht im Spätsommer dann endlich in dem kleinen Asus gespeichert war, wollte ich es für "Book on Demand" druckfertig machen; ein hoffnungsloses Unterfangen bei meinen nur rudimentären Computer-Fähigkeiten.

Eben dann hörte ich eines Abends eine unbekannte Stimme auf dem Anrufbeantworter, die sagte, hier melde sich ein alter Freund nach über 50 Jahren. Tatsächlich, so erfuhr ich beim Rückruf, war es ein Schulfreund, den ich damals gewaltig bewundert und beneidet hatte, weil er die Schule abgebrochen hatte, um zur See zu fahren. Sehr viel später folgte ich ihm nach, allerdings auf einem Rahsegler. Und auch nicht um Seemann zu werden wie dieser Schulkamerad sondern um die Welt zu sehen.

"Bist du nun Kapitän?" fragte ich ihn.

Nein, sagte er, er sei nicht bei der Seefahrt geblieben, sondern sei zu Schule und Physikstudium wieder an Land gegangen.

"Und was ist nun dein Beruf?"

Er habe in einem Amt für Computersicherheit gearbeitet und sei nun pensioniert und verbringe die Zeit damit, Kontakte zu alten Freunden und Mit-Seeleuten aufzunehmen, um daraus ein Buch zumachen.

Diesen ehemaligen Klassenkameraden schickte der Himmel und ich fürchte, hätte er geahnt, wasfür eine Menge Arbeit er sich durch diesen Anruf bei mir einhandeln werde, er hätte sich besser ruhig verhalten ...

Jedenfalls hockten wir danach wochenlang vor seinen Computern und dieser Fachmann half mir mit Engelsgeduld beim Layout und Bilder- und Vignetten-Einfügen und ertrug stoisch meine ständigen Änderungen. Es erinnerte mich lebhaft an die Bauzeit unserer Golden Wind in England, als die zwei jungen Bootsbauer immer wenn ich mit dem Konstrukteur zusammen die Werfthalle betrat, unisono riefen: No more changes!

Die grösste Änderung betraf die Erscheinungsweise des Buches. Statt es wie ursprünglich geplant mit ISBN-Nummer dem Buchhandel anzubieten, wurde mir eben noch rechtzeitig klar, dass ich mir treu bleiben musste und die Öffentlichkeit meiden wie bisher und es in meine schon lange geplante Treibholzstiftung als "ein freies Buch" einbringen. Diese Idee habe ich seit Jahren ausführlich geschildert ohne viel Erfolg oder Zustimmung. Nun, als alter Mann, bleibe ich dabei, auch wenn es keiner versteht, ich auch nicht ...

Aber eine andere unglaubliche Neuerung hat dieser alte Schulfreund eingeführt: Er richtete mir eine e-mail-Adresse ein! Sodass auf meinem winzigen Asus die erste e-mail meines Lebens eintraf und von ihm abging!

Das kam so:

Als das Buch im Spätsommer endlich fertig war und ein erster Andruck von e-publi vorlag, hatte ich genug und konnte nicht anders, ich musste das weite Meer nochmal riechen und statt bescheiden den Rhein zu meiner Bucht mit Eisvögeln, Nachtigallen, Cormoranen, Blesshühnern und Schildkröten weiter hochzusegeln, drehte ich den Bug nach Norden und war nach nur 6 Tagen auf dem Ijsselmeer und bald auf dem Wattenmeer, wo meine kleine Kuro die Seehunde verbellte ...

Nun ist es heutzutage so weit gekommen, dass die Sendungen der Seewetterberichte nach und nach aufgegeben wurden, weil alle Segler sich per Laptop und Internet mit weit ausführlicheren Wetterdaten versorgen. Als ich versuchte, mich mit meinem kleinen Netbook da einzuloggen, erfuhr ich, dass dazu eine e-mail-Adresse obligatorisch sei. Ich glaube, der alte Schulfreund musste grinsen und murmelte sowas wie "siehste!", als ich ihn um Hilfe bat.

Sogleich richtete er mir ein (demnächst ungültig): hannes-san@quasi.de
Das änderten wir später in: der-spurlose-pfad@quasi.de
Und zuletzt noch eine website: http://der-spurlose-pfad.doesntexist.org/ (Benutzername: Bootsmann / Passwort: Crohn)

Dort legte er das Buch parat für Freunde, denen ich das Passwort geben würde.

Eigentlich wollte ich so um die 30 bis 40 Exemplare drucken lassen und verteilen, mit der Auflage, sie weiter zu verschenken. An Freunde aus meiner Generation der "Ausdrucker", der Internet-Muffel, dieser aussterbenden, mitleidig belächelten Art der Neandertaler 2.0. Dabei erhalte ich doch - auch von älteren Freunden - dauernd Anfragen der Art: Wann endlich hast du eine Internet-Adresse?

Hallo, hallo, ihr Zeitgeist-Surfer und Info-Fresser, hier ist sie! Einer von euch hat mir dieses Danaergeschenk gemacht und zudem die Möglichkeit eingerichtet, mein neuestes Buch runterzuladen, sodass es mich nicht mal was kostet. In 3 Portionen zu insgesamt ca. 19 MB, falls es knapp wird. Das Passwort dazu, so vertraue ich, werdet ihr verantwortungsvoll handhaben und nicht öffentlich machen, sondern entsprechend wie ich es mir für die Treibholzstiftung ausgedacht habe. So bleibt das Buch ein verborgenes. Blauäugig und vorgestrig wie das sein mag.

Danke, Rudi Quasi!

Mögen alle Nutzer glücklich sein! So glücklich wie die, die dem Netz durch die Maschen gegangen sind.

Unterwegs
vom Nirgendwo
in die endlose Weite
der Freiheit.


Ich kümmerte mich nicht weiter darum. Aber es war doch interessant, ab und zu zu sehen und zu erfahren, wie sich kleine Wellenkreise in dem fast verborgenen Eckchen des Netzes ausbreiteten, wie hie und da mein letztes Buch mehr oder weniger gut gedruckt auftauchte und wieder verschwand, subversiv und wie ein Maulwurf im Untergrund. (Seltsamerweise fehlte oft der farbige Cover und der Rückseitencover mit kurzer Zusammenfassung.)
Dann passierte Folgendes:
Wieder war ich über 1000 km auf dem Rhein vor meiner Haustür gesegelt, als der Ruf des Meeres wie all die Jahre zuvor doch so stark wurde, dass ich ihm über Rhein und Elbe zur Nordsee folgen musste. Zwar hatte ich mein winziges Netbook dabei, rührte es aber nie an, obwohl heute in allen Häfen w-lan angeboten wird. Erst in Thisted am Limfjord schaute ich doch 'mal rein und fand mit Schrecken viele e-mails, wo moniert wurde, die homepage namens «der-spurlose-pfad.doesntexist.org» sei nicht zu erreichen. Als ich heimgekehrt war nach einer beglückenden Reise, berichtete mein Computer-Meister Rudi Quasi, der Provider habe überraschenderweise und ohne Begründung den «spurlosen Pfad» geschlossen, den Namen «doesntexist» offenbar wörtlich genommen, er existiert nicht mehr, die Spur, die nie vergehen wollte, ist doch vergangen, weg, aus, vorbei!!!
Ist das nicht wunderbar? Eine wirkliche Befreiung!
Das Netz ist garnicht so ehern und ewig, es hat ein Eigenleben und Eigen-Sterben! Es vergisst absichtlich. Es gibt ihn doch, den Spurlosen Pfad!!!
Liebe Freunde,
die alte homepage ist also im orcus verschwunden, gebt Euch keine Mühe. Aber weil es so leicht und locker ging, hier ein weiterer, kleiner und vorläufiger Versuch:
«http://er-existiert-doch.der-spurlose-pfad.de» oder
«http://der-spurlose-pfad.de»

Es erscheint unerschütterlich und ewig
Und ist doch vergänglich
Wie alles, was ist
oder nicht ist.
Das ist die wahre Vogel-Freiheit,
die nur findet,
wer sie nicht sucht.
Spurloser Pfad
vom Nirgendwo
in die grosse Leere.


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